Das große Staatstheater in Cottbus liegt für die Berliner nicht so weit entfernt, wo ihnen wunderbare Operette und Musical im Repertoire gezeigt wird, was es so in Berlin nur minimal gibt. Dazu hat Cottbus seit Jahren immer wieder erfolgreiche Produktionen kreiert und holt versierte Regisseure.
Auch Gäste wie jetzt Isabel Dörfler als Norma Desmond in den Musicalhauptrollen werden engagiert und somit auch Aufgaben nach außen gegeben, aber eben dass das Musiktheaterensemble so gekonnt mit Chor und Ballett besetzt werden kann, zeigt Können, Stärke und Potenz. Da ist unbedingt die Szene mit den Verkäufern zu nennen, die neben zwei Tänzern ausschließlich mit Solisten besetzt ist. Was sich in Ausdruck und Ausstrahlung positiv auswirkt.
Regisseur Klaus Seiffert, der selbst momentan Solist in „Ghost“ in Berlin ist und erneut in Cottbus inszeniert, findet immer wieder viele Spielmöglichkeiten für das interessierte Ensemble. Wobei die vielen kleinen Soloeinwürfe und Tanzschritte – vor allem durch den Chor – bezüglich der Tarifregelungen eine Aufführung für das Theater teurer machen dürfte.
Jedenfalls vertraut er wie auch der gezielt begleitende Dirigent Alexander Merzyn auf das Musical von Andrew Lloyd-Webber, Don Black und Christopher Hampton. Zügig und fließend wird erzählt. Das Staatsorchester hat neben den Liedern auch die vielen musikalischen Untermalungen zu leisten, was alles auf hohem Niveau geschieht. Gerade einmal die Webber-Melodien mit großem Live-Orchester hören, hat schon seinen Wert. Die 6 Tänzer*innen ergänzen das gemischte Ensemble und bereichern es. Dazu hat Choreograph Mario Mariano schlaue Akzente gesetzt und in der Gewittermusik kurz vorm Ende wird Joes innerer Konflikt zwischen den zwei Frauen von drei Tänzer*innen getanzt.
Isabel Dörfler beginnt gleich als weltfremder, charmant einnehmender und ihre Partner beherrschender Star. Ihre glaubhafte Naivität durchschneidet sie mit scharfen Zügen einer Diva. Das gestaltet die Auftritte mit wechselnden Gefühle und hält die Unberechenbarkeit hoch. Jedes ihrer Lieder wird berechtigt bejubelt.
Heiko Walter überrascht als Max mit seinen Differenzierungen. Denn die steife Korrektheit des Butlers lässt sich leicht mit dem Klischee eines Opernsängers verwechseln. Doch die Blicke und Mimik verraten die genau gesetzten Momente des Norma Beschützenden und erzählen etwas darüber, wie der Entdecker von Norma über ihre jetzige Situation wirklich denkt.
Debra Stanley überzeugt voll als Betty Schaefer. Sie lässt ihre Lieder leicht und treibend klingen, ohne Operngesten zu brauchen.
Hardy Brachmann, der viele Musicalhauptrollen in seinen 26 Jahren am Staatstheater Cottbus gespielt hat, ist als Drehbuchauto Joe Gillis der Erzähler von den Geschehnissen am 10086 Sunset Boulevard. Das geschieht souverän und stimmlich überzeugend. Doch bei der stringenten Umsetzung gibt es wenig weitere Facetten und Kommentare in seinem Spiel. Vieles wird direkt eins-zu-eins ausgeleuchtet, wo doch im Verborgenen der Rolle einige Farben – und vor allem Brüche und Widersprüche – zu entdecken wären. Das gilt für die Lieder wie auch Dia- und Monologe. Es ist alles souverän da, aber einiges zusätzlich wäre machbar gewesen.
Das die weiteren Rollen durch Solisten besetzt wurden, ist ein wichtiger Trumpf und Garant vom Ensemblespiel auf der Bühne. Dazu kleines Ballett und Chor, die im Drehscheibeneinheitsbühnenbild (Ausstattung: Barbara Krott) überzeugend inszeniert wurden.
Die variantenreichen Kostüme bringen Chic und Farbe ins Spiel und charakterisieren gekonnt ihre Figuren. Die Drehbühne ist asymmetrisch geteilt und bietet zum einen Normas Salon mit geschwungener Treppe und riesengroßen Divengemälden. Auf der Rückseite dann ein zweistöckiger Raum mit Platz für Schwabs oder Filmgelände. Dazu die Rückwände in schwarz bzw. in silberner Wellblechoptik, was an die schwarz-weiß-Filme erinnert. Doch dass in Deutschland häufig die festen Gassenwände nicht gestaltet werden und einen düsteren Rahmen bilden, ist eher verschenkt und ist mit dem unzureichenden Ausstattungsetat und Kapazitäten verbunden. Bei der Aufprojektion des Swimmingpools hätte ich mir dann wirklich gewünscht, dass Joe nass einem Becken entsteigt und sich abtrocknet bei seinem großen Solo.
Die Stärke dieser Produktion in Cottbus liegt für mich im Vertrauen auf das Musical, so wie es ist, und das Betonen des Ensembletheaters. Das lässt Momente wahrhaft und unmittelbar werden, was mit vielen nahezu ausverkauften Vorstellungen belohnt wird. Wenn jetzt die Berliner 80 Minuten mit dem Zug hinfahren würden …
Sunset Boulevard
Musik von Andrew Lloyd Webber, Buch von Don Black und Christopher Hampton, deutsche Übersetzung von Michael Kunze
Premiere am 14. Oktober 2017 im Großen Haus vom Staatstheater Cottbus
Regie: Klaus Seiffert | Musikalische Leitung: Alexander Merzyn | Choreographie: Mario Mariano | Ausstattung: Barbara Krott | Choreinstudierung Christian Möbius | Dramaturgie: Dr. Carola Böhnisch | Regieassistenz: AnnaLisa Canton
Norma Desmond: Isabel Dörfler | Joe Gillis: Hardy Brachmann | Betty Schaefer: Debra Stanley | Max von Mayerling: Heiko Walter | Cecil B. DeMille: Ulrich Schneider | Artie Green: Christian Henneberg | Myron / Manfred: Dirk Kleinke | Mary / Astrologin: Liudmila Lokaichuk | Joanna / Psychologin: Carola Fischer | Schuldeneintreiber / Verkäufer: Ingo Witzke | Schuldeneintreiber / Verkäufer / Steve / Hog-Eye: Nils Stäfe | Morino / Verkäufer / Jones: Matthias Bleidorn | Sheldrake / Verkäufer: Jens Klaus Wilde | Ärztin / Reporterin: Gesine Forberger | Katherine / Glenn / Masseuse: Sandra Bösel | Anita / Masseuse: Katharina Dittmar | Girl / Danielle / Alisa / Heather / Kosmetikerin: Meike Funken | Kosmetikerin: Beate Dittmann-Apel
Die Szenenfotos sind vom Staatstheater Cottbus zur kostenfreien und zeitlich unbegrenzten Verfügung gestellt, © Marlies Kross