Evita neu und bekannt in Magdeburg

Der Aufstieg und Fall der »Evita« ist eine einzige Rückblende voller Referenzen auf die historischen Personen, die künstlerische Auswahl der Ereignisse, theatralische Zeitsprünge und (musikalischen) Querverweise. Somit alles andere als gradlinig oder pauschal verurteilbar. Da die neue Magdeburger Inszenierung von Matthias Reichwald mit einem schwarz-weißen Bühnenbild von Michael Lindner arbeitet, ist mir nach 26 gesehenen, unterschiedlichsten Produktionen »Evita« dann grundsätzlich zu kurz gedacht. Nicht alles fand ich gelungen, aber die Qualität und vor allem Vielschichtigkeit des Musicals bleibt der Trumpf für den überzeugenden Theaterabend.

In Magdeburg ist »Evita« auch nicht ganz unbekannt – am 4. Juni 2010 gab es eine Freilichtinszenierung auf dem Domplatz. Der neue Intendant Julien Chavaz beauftragte nun den in Magdeburg geborenen Schauspieler und Regisseur Matthias Reichwald mit einer Neuinterpretation und gab ihm die Evita-erfahrenen Gäste Milica Jovanović und Patrick Adrian Stamme zum Ensemble aus Sängern, Ballett, Chor, Kinderchor und Bühnenbildschiebestatisterie. Für mich überraschend zu bemerken war, dass Ché eher Eva begleitet als ihr Handeln kritisch zu kommentieren, und ohne sie immer wieder herauszufordern. Beide wirken vertraulich bis zu viel zu sehr vertraut miteinander. Das funktioniert zwar, verschenkt aber explosives Knistern auf der Bühne.

Gerade im ersten Requiem knisterte es mir viel zu oft aus dem Orchestergraben. Da hatte ich mir von der Magdeburgischen Philharmonie wirklich wesentlich mehr erhofft – Musical ist eben Königsklasse. Dabei konnte ich mich an die langsamen Tempi und nicht erreichten Anschlüsse der Musiknummern von Paweł Popławski mit der Zeit gewöhnen. Da aber der Beginn schon mehr als wackelig war, hatte ich danach keine Erwartungen an die Orchestermusiker mehr.

Aber die Inszenierungen holte in zweierlei Hinsicht »Evita« ans Heute heran: Zum einen arbeitete Choreograph Volker Michl mit den lateinamerikanischen Rhythmen – aber eben heutig, kantig, knackig – mit zehn Tänzern und sechs Tänzerinnen. Warum ausgerechnet bei den Spendengeldern Eva Perón zwischen den Tänzern sich dreht, ist eine der Stellen, die ich nicht ansatzweise nachvollziehen kann. Zum anderen fielen mir die zahlreichen Textänderungen, die für die alte Übersetzung von Michael Kunze von 1981! inzwischen mehr als nötig sind – auch wenn mir der One-Night-Stand schmerzlich fehlte, sehr positiv auf. Das Ensemble „Rainbow High“ ging dabei völlig an Ché allein (Dramaturgie: Marie Julius).

Kostümbildnerin Tanja Liebermann wich zwar mit Pastelltönen beim großen Kinderchor und bei der Regenbogentour mit Rottönen im Ballett vom schwarz-weißen Grundkonzept ab, aber unterstützte das Ensemble gekonnt mit ihrer Arbeit. Michael Lindner bot eine teilbare Tribüne plus ein drehbares Stadionhalbrund, was immer wieder neue Räume ermöglichte. Zwei Sessel und ein Schminktisch sind erstaunlich wenig Möbel auf der Bühne. Aber manchmal vermisse ich die Doppelbödigkeit in dieser Klarheit. Nun gab es „Verlass mich nie“ (aus dem Film) als Nahaufnahme mit Livekamera zu erleben – aber eben auch mit bildlicher Verzögerung zum Gesang, woraus sich die Frage ergibt: Wieso und warum überhaupt? Mir nicht mehr bekannt ist, ob dieses Lied schon 2010 Freilicht in Magdeburg dabei war, denn kurz davor 2009 hatte dieses Zusatzlied in Übersetzung von Stefan Huber in Dortmund seine deutschsprachige Erstaufführung.

Beide Hauptdarsteller waren verführerisch in ihrer Doppelbödigkeit, doch gelang Patrick Adrian Stamme als Ché mehr Differenzierung und Hinterfragung. Vertraulichkeit wie bei den „Spendengeldern“ schwächt die gegenseitige Spannung wie auch das sie auf Händen tragen und in den Sessel setzen nach dem „Walzer“. Selbst bei „Jung, schön und geliebt“ ist er zu freundlich, kann er bissiger und provozierender sein. Milica Jovanović war mir zu klar und glatt ihrer Rolle der Evita ergeben. Natürlich ist sie eine überzeugende Titelfigur, die sich als Heilige und gleichzeitig als Zirkusdirektorin präsentiert. Selbst das verzweifelte Einfordern der Vizepräsidentschaft darf wesentlich bissiger sein. Da habe ich definitiv mehr vom Schauspielregisseur Matthias Reichwald erwartet. Bei beiden habe ich trotz ihrer Souveränität, mit der sie das Publikum zurecht begeistern, mehr Kanten und Biss gewünscht. Im Buch von Tim Rice ist es überall zu finden.

Es war für Doğukan Kuran offensichtlich nicht sein Repertoire, den Juan Perón zu geben. Ist „Das Handwerk des Möglichen“ noch ein interessanter Beginn, aber ansonsten bei seinen Dialogen und Spiel – selbst in Magdeburg muss das adäquat besetzt sein. Wo für Aleksandr Nesterenko seinen Magaldi noch stilsicher präsentierte, konnte Jeanett Neumeister in ihrer Szene als Geliebte einfach nur glänzen. Auf den Punkt, spannend, differenziert. Chance ergriffen und das Publikum begeistert. Sie ist mit Rosha Fitzhowle alternierend besetzt.

In der Kinosaalszene zu Beginn ist erkennbar, dass der Opernchor durchaus differenziert spielen kann. Warum er danach meist nur unisono eingesetzt wird, ist beim Betrachten unerklärlich. Waren für den Chor bei einem Musical, wo dieser normalerweise auch bewegt wird, einfach zu wenig Proben geplant? Das gleiche gilt auch für den Kinderopernchor, der sich sicherlich beim Singen auch mehr bewegen hätte können.

Mit »Evita« gelingt nicht zuletzt auf Grund des Stückes an sich und der beiden Gäste in den Hauptrollen der kalkulierte Erfolg. Auch wenn für mich sich so manche Szene nicht erschloss und die musikalische Umsetzung für mich extrem Wünsche offen ließ, gelang eine große Musicalaufführung, die bei bleibender Zuschauernachfrage zu Zusatzvorstellungen führen muss.

»Evita«
Musical von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice | Deutsch von Michael Kunze
Premiere am 11. November 2023 am Theater Magdeburg
Regie: Matthias Reichwald | Musikalische Leitung: Paweł Popławski | Choreografie: Volker Michl | Bühne, Video: Michael Lindner | Kostüme: Tanja Liebermann | Choreinstudierung: Martin Wagner | Dramaturgie Marie Julius
Eva Perón: Milica Jovanović | Che: Patrick Adrian Stamme | Juan Perón: Doğukan Kuran | Magaldi: Aleksandr Nesterenko | Geliebte: Rosha Fitzhowle / Jeanett Neumeister | Opernchor des Theaters Magdeburg | Kinderopernchor des Konservatoriums „Georg Philipp Telemann“ | Ballett Theater Magdeburg | Statisterie | Magdeburgische Philharmonie

Unklar für mich ist auch, wenn zu Beginn des zweiten Akts das 1978er Logo genutzt wird, aber grafisch vom Theater eine redende Evita mit erhobenen Händen als Weihnachtsengel stilisiert wird.

Evita in Magdeburg 2023

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